Holocaust-Gedenktag. 4 Wochen vor der Wahl

Große Demos für Demokratie und Vielfalt: Vor einem Jahr gingen in Melle, in Osnabrück und vielen anderen Orten in Deutschland rund um den damaligen Holocaust-Gedenktag Hunderttausende auf die Straße. Sie zeigten Flagge für den Erhalt unserer Demokratie, für Vielfalt und Toleranz, gegen Ausgrenzung, Hass und Hetze. Wenige Wochen vor den anstehenden Wahl sind für uns als UWG-Kreistagsfraktion der diesjährige Holocaust-Gedenktag am 27. Januar und das Demo-Engagement des letzten Jahres von ganz besonderer Aktualität.

Bei den Demos im letzten Jahr in vielen Orten zu sehen: Nie wieder ist Jetzt. Mit Leben füllen diese Worte nur Taten mit dem Ziel, unsere liberale, offene, demokratische Gesellschaft zu verteidigen und zu stärken. © ZDF-Nachrichtensendung HEUTE am 20. Januar 2024 um 19 Uhr. Abfotografiert vom Bildschirm.

„Wir stehen ein für unseren demokratischen Rechtsstaat und für eine Gesellschaft der Vielfalt, in der jeder Mensch unabhängig von Herkunft, Religion oder Identität respektiert wird. Das Gedenkwochenende für die Opfer des Nationalsozialismus sollte uns ins Bewusstsein rufen, wohin Rechtsextremismus und Faschismus in Deutschland schon einmal geführt haben.“ Das sagte unser im Mai leider viel zu früh verstorbene Fraktionskollege Matthias Pietsch anlässlich der Demos im letzten Jahr in Melle und Osnabrück.

„Wehret den Anfängen“: Wissen wir noch, wie es anfing?

Der Holocaust: Jedes einzelne Opfer dieses Menschheitsverbrechens, Männer, Frauen, Kinder, ist durch die Hölle gegangen. 5,6 bis 6 Millionen europäische Juden und damit rund zwei Drittel aller damals lebenden europäischen Juden fielen dem Holocaust zum Opfer. Allein im Vernichtungslager Auschwitz ermordeten die Nationalsozialisten zwischen 1940 und 1945 mehr als eine Million Menschen, darunter Elise de Jonge aus Alfhausen. Das Nazi-Regime überlebten aber auch viele Sinti und Roma nicht, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, Kriegsgefangene, politische Gegner. Wie konnte es dazu kommen?

Für den Verfassungsschutz ist die Junge Alternative (JA) gesichert rechtsextremistisch. Zum 1. April will nun die AfD eine neue Jugendorganisation gründen, „die professioneller agiert“ (Timo Chrupalla). Professioneller in dem Sinne: Doch nicht so offen zeigen, wie wirklich gedacht wird? Quelle und ©: www.spiegel.de (siehe (1).

„Wehret den Anfängen“ ist eine Lektion aus der deutschen Geschichte. Haben wir sie gelernt? Wissen wir noch, wie es anfing? Das erste Programm der Hitler-Nazipartei dürfte viele überraschen. Es zeigt, dass der Weg in die Katastrophe des Holocaust mit Begriffen und Ankündigungen begann, die auch heute wieder eine Rolle spielen. Die Geschichte zeigt auch: Ins Visier Rechtsradikaler gerät anfangs immer erst die Gruppe von Menschen, gegen die sich bei Teilen der Bevölkerung Aversionen am erfolgreichsten schüren lassen. Damals waren es Jüdinnen und Juden. Und heute? Heute sind es Menschen mit Migrationshintergrund.

Nazi-Programm von 1920: Legten ihre Vernichtungsabsichten anfangs nicht offen. Lag die NSDAP 1924 noch bei gut 6 %, erreichte sie 8 Jahre später (1932) 37,3% der Stimmen. Die Wahl 1933 war dann schon keine freie Wahl mehr. © Fotosammlung: Bundesarchiv Bildarchiv, Screenshot von https://www.annefrank.org/de/timeline/7/das-parteiprogramm-der-nsdap/

Der rote Faden vom Gestern zum Heute: Zugehörigkeit absprechen, Einreiseverbot, müssen das Land verlassen.

„Die Juden sind unser Unglück“: Im Focus der Hitler-Nazis standen die Juden, die als Deutschlands Unglück stigmatisiert wurden. Auf Stimmenfang ging man zunächst mit einem Maßnahmenkatalog, in dem von Mord und Vernichtung keine Rede war. Jüdinnen und Juden wurden sogar – zynischer geht es nicht – als „Gäste“ bezeichnet, für die „andere Gesetze gelten“. Welche das sind: Hier die Ankündigungen dazu aus dem Programm von 1920, dem ersten der in dem Jahr gegründeten  Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP).

  • Juden gehören nicht zum deutschen Volk. Deshalb sind sie auch keine Staatsbürger
  • Da Juden keine Staatsbürger sind, sind sie „als Gast“ in Deutschland. Für „Gäste“ gelten andere Gesetze.
  • Wenn es der deutschen Regierung nicht möglich ist, für ihre Staatsbürger zu sorgen, müssen „Gäste“ – wie die Juden – aus dem Land abgeschoben werden.
  • Menschen aus anderen Ländern dürfen nicht mehr nach Deutschland kommen, wenn sie keine Staatsbürger sind. (2)

Ersetzen wir in diesem Text einmal in Gedanken das Wort Juden durch Migranten… Und schauen wir z.B. auf den Punkt 3, der lautet: „Wenn es der deutschen Regierung nicht möglich ist, für ihre Staatsbürger zu sorgen, müssen „Gäste“ – wie die Juden – aus dem Land abgeschoben werden.“ Was damals so klang, klingt heute so: Die Regierung sorgt für Migranten aus aller Welt, aber nicht für „uns Deutsche“. 

Jetzt doch, womit man bislang zögerte: Vor wenigen Wochen hat der AfD-Bundesparteitag Remigration offiziell ins Wahlprogramm aufgenommen. Quelle und © Screenshot: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/warum-ist-der-begriff-remigration-problematisch-afd-kommunalwahl-stuttgart-100.html

„Wir“ und „die“: Zur Realität vor dieser Wahl gehört die bereits weit fortgeschrittene Spaltung Deutschlands in ein „wir“, die vermeintlich „echten“ Deutschen“, und in ein „die“, die vermeintlich anderen, die Zugewanderten. Stigmatisiert werden diese Anderen als Wesensfremde, als Schmarotzer, als diejenigen, die auf Kosten und zu Lasten der „echten“ Deutschen leben. Raus mit ihnen per Remigration ist der neue Schlachtruf rechter Sündenbock-Politik nach dem Motto „die Migranten sind unser Unglück“.

Allein über 27% der Ärzteschaft hat einen Migrationshintergrund – und 60% der Reinigungskräfte.

Über 20 Mio. Menschen in Deutschland haben eine Einwanderungsgeschichte. Die Wahrheit ist: Ohne diese Zugewanderten und ihre Kinder wäre die Wohlstandsentwicklung in Deutschland nicht möglich gewesen. „Dies gilt insbesondere für die vergangenen zehn Jahre, in denen über 50 Prozent des Aufbaus der Beschäftigung durch Zuwanderung zustande gekommen ist.“ (3)

Der Ärztemangel in Deutschland wäre ohne die ausländischen Ärzte noch um einiges größer. Quelle und ©: www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/aerzte-ausland-100.html

Wenn 35 Prozent der Deutschen nach einer aktuellen Umfrage angeben, Migration sei heutzutage das größte Problem unserer Zeit, dann zeigt diese Zahl, dass wir uns bereits ganz tief in den Untiefen einer Sündenbock-Erregung befinden, die Fakten schlichtweg ignoriert. Zu den Fakten gehört z.B.: Von den insgesamt rund 410.000 berufstätigen Ärztinnen und Ärzten haben rund 130.000 einen Migrationshintergrund, das ist über ein Viertel der gesamten Ärzteschaft (27,3%), darunter sind viele Ärzte und Ärztinnen aus Syrien. (4)

Die Altenpflege würde kollabieren ohne die Menschen mit Migrationshintergrund und erst recht die Reinigungsbranche. Quelle und ©: siehe 4.

Wann, ist zu fragen, bekämen wir überhaupt mal einen Arttermin und eine ärztliche Behandlung ohne die vielen Menschen im Gesundheitswesen mit einem Migrationshintergrund? Und wer, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, reinigt unsere Schulen, Krankenhäuser, Kitas, Büros usw.? 60 % der Menschen in Reinigungsberufen hat einen Migrationshintergrund. Fakt ist: Ohne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus vieler Herren Länder kommt heute kaum mehr ein Betrieb und kaum mehr eine Einrichtung in Deutschland aus. Dennoch zeigt das pauschale Schüren von Aversion und Aggression gegen zugewanderte Menschen in erschreckendem Ausmaß Wirkung.

Sich die Geschichte zurechtzubiegen, wie es einem gefällt.

Zum Instrumentenkasten rechter Aufwiegler gehört nicht zuletzt auch, sich die Geschichte zurechtzubiegen, wie es einem gefällt. So z. B. gerade erst in einem Kommentar der Jüdischen Allgemeinen zu lesen: „Dass Alice Weidel (AfD) den Judenhass der Nazis .sozialistisch‘ nennt und ausgerechnet ihre Partei zur ,einzigen Beschützerin‘ der Juden in Deutschland ausruft, ist infam. Bei Alice Weidel wird aus Wahrheit sehr schnell Lüge.“ (5)

Die meisten antisemitisch motivierten Vorfälle können Rechtsextremen zugeordnet werden (Zeitraum 2029-2023). Das ist das Ergebnis einer Studie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias). Quelle und ©: www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/studie-rechtsextremismus-haeufigste-ursache-fuer-antisemitismus,UWeW7VC

Anders, als rechtsextreme Propaganda glauben machen will, spricht die hohe Zahl rechtsextremistischer Angriffe auf Jüdinnen und Juden eine deutlich andere Sprache. Es ist in der Tat infam, die Tatsache, dass auch es auch unter Migranten Antisemitismus gibt, zu nutzen, um sich als Beschützer von Jüdinnen und Juden auszugeben – und zugleich Hass und Hetze gegen Migrantinnen und Migranten durch den Fingerzeig zu verschärfen, die Antisemiten sind doch nicht unter uns, sondern unter den Migranten.

Infam ist das vor allem vor dem Hintergrund, dass Alexander Gauland (AfD) in seiner Zeit als Partei- und Fraktionschef die Nazi-Herrschaft, in deren Verantwortung der Holocaust fällt, als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnete. Björn Höcke forderte zudem eine  „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad”. Gedenken solle man, so Höcke, der deutschen Opfer. Nun hätte es jedoch gar keine deutschen Opfer gegeben, wenn Nazi-Deutschland nicht den Zweiten Weltkrieg begonnen hätte. Nicht zu vergessen: Die in den KZs gestorbenen und ermordeten Menschen waren Deutsche.

Zeitzeugin Charlotte Knobloch, 92 Jahre alt, geboren 1932 in München, von 2006-2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. In einer 3Sat-Sendung vom 21. Januar diesen Jahres sprach sie darüber, wie sie die Judenverfolgung- und -vernichtung in einem Versteck auf dem Land überlebte. Quelle und ©: 3Sat, abfotografiert vom Bildschirm.

Die kommen nach der Wahl ja nicht an die Macht? Fakt ist: Die sind durch die Aggressions- und Gewaltbereitschaft des rechtsextremen Fußvolks längst äußerst mächtig.

Immer wieder zu hören: „Weil die anderen Parteien nicht geliefert haben, was ich geliefert haben möchte, wähle ich die Rechtsaußenpartei des Bundestags. An die Macht kommen die ja nicht.“    Nicht gesehen wird dabei, dass der Rechtsextremismus schon jetzt sehr viel mächtiger ist, als die Anzahl von Sitzen im Bundestag vermuten lässt. Wellen über Wellen verunglimpfender und bedrohender Shitstorms über die neuen Medien, tätliche Angriffe: Das aggressions- und gewaltbereite rechtsextreme Fußvolk verbreitet bereits in alarmierendem Ausmaß Angst und Schrecken. So gehören zum Feindbild rechter Kräfte längst nicht mehr nur Migrantinnen und Migranten. Beispiel: die geschürte Medienfeindlichkeit. Der Hass auf  die klassischen Medien äußert sich „nicht mehr nur in den mittlerweile zum Alltag von Journalistinnen und Journalisten gehörenden Lügenpresse-Rufen, Beleidigungen und Bedrohungen, sondern seit vier Jahren auch in einer erhöhten Zahl gewalttätiger Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten.“ (6) 

In Zwickau wird beispielsweise der Kunstverein „Freunde aktueller Kunst“, der zu den renommiertesten im Osten Deutschlands gehört, seit Jahren von Neonazis bedroht. Quelle und ©: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/kultur/kulturhaeuser-werden-von-rechtsextremen-angegriffen-19460369.html

Zu den als Feinden markierten gehören nicht zuletzt Menschen, darunter auch Politikerinnen und Politiker, die sich für Vielfalt und Toleranz, gegen Ausgrenzung, Hass und Hetze sowie in Kunst- und Kultureinrichtungen engagieren, darunter vor allem Ehrenamtliche. „Wenn Engagement unfreiwillig zur Mutprobe werde, wenn Journalistinnen und Journalisten attackiert werden und wenn politisch Engagierte sich aus Angst zurückzögen, verliert unsere freiheitliche Demokratie“, so Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. (7)

Nase gebrochen, eine Platzwunde: Eines der Opfer ist ein Marokkaner. Auf der Straße, in der Straßenbahn, Hakenkreuz-Schmiererei an der Wohnungstür einer Familie ,nichtdeutscher Herkunft‘: Seit Wochen gibt es in Magdeburg rassistische Angriffe auf Menschen mit einem Migrationshintergrund. Da wir Angst zum Dauerbegleiter. Quelle und ©: mdr.de, siehe 8.

Zur anstehenden Wahl: Welchen Weg gehen wir? Die Entscheidung liegt bei uns.

Gibt es Zuwanderungs-, Integrations- und Gewaltprobleme, die dringend gelöst werden müssen? Ja, die gibt es. Gibt es gravierende Abschiebe-Probleme? Ja. Dass schwerwiegende Probleme gelöst werden müssen, steht außer Frage. Die entscheidende Frage ist: Wie lösen wir sie? Die Trennlinie zwischen Demokraten und Nicht-Demokratie ist dabei klar auszumachen: Vorurteile gegen Ausländer und Geflüchtete zu schüren, Feindbilder zu schaffen und zu schüren, ist in keiner Weise mit dem Grundgesetz und dem darin verankerten Menschenbild zu vereinbaren. Und das aus gutem Grund.

Über 59 Mio. Menschen sind aufgerufen, sich einzubringen: per Briefwahl oder am Tag der Wahl (23. Februar). Quelle und ©: www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/12/PD24_460_14.html

Hass und Hetze, Feindbilder, Polarisierung und Spaltung führen einzig und allein zu mehr Aggressions- und Gewaltbereitschaft. Probleme zu lösen und Herausforderungen zu bewältigen gelingt nur mit der Bereitschaft, den Zusammenhalt in unserer vielfältigen Gesellschaft zu stärken und ihn zu nutzen für die Gestaltung unser aller Zukunft. Stärken wir bei der anstehenden Wahl Kräfte, die die Aggressions- und Gewaltbereitschaft weiter anheizen? Oder stärken wir mit unserer Stimme unsere Demokratie und unsere demokratischen Werte und sagen damit Nein zu menschenverachtenden Einstellungen und Ideologien? Wir haben die Wahl.

Quellen:

1 www.spiegel.de/politik/deutschland/junge-alternative-teilnehmer-an-wanderung-sollen-ueber-ghettos-fuer-juden-und-arbeitslager-fabuliert-haben-a-45b6eec4-09b8-430a-af41-02e70de82d8f

2 www.annefrank.org/de/timeline/7/das-parteiprogramm-der-nsdap/

3 www.diw.de/de/diw_01.c.905086.de/nachrichten/darum_ist_zuwanderung_die_grundlage_fuer_unseren_wohlstand.html

4 www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2022/10/SVR_Factsheet_Jahresgutachten_2022.pdf

5 www.juedische-allgemeine.de/meinung/die-linke-tour-der-alice-weidel/

6 www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/angriffe-journalisten-gewalt-studie-feindbild-100.html

7 www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2024/kw20-de-rede-bas-1002328

8  www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/magdeburg/magdeburg/attentat-weihnachtsmarkt-neue-details-gewaltsame-angriffe-migranten-116.html