Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938: Das diesjährige Gedenken stellt uns in besonderer Weise vor die Frage, was das „Nie wieder“ bedeutet. Machen wir uns an diesem Gedenktag erneut bewusst: Beim Kampf gegen den Antisemitismus geht es um das Fundament unseres Miteinanders – um die Verteidigung unserer liberalen, offenen, demokratischen Gesellschaft.
„Mahnen und Gedenken bleiben ein unverbindliches Ritual, wenn sie nicht zum aktiven Einsatz gegen Antisemitismus, Rassismus und Faschismus und für demokratische Grundwerte führen“.
Stolpersteine, wie es sie z.B. im Landkreis Osnabrück in Alfhausen, Bersenbrück und Melle gibt, erinnern uns an das deutsche Menschheitsverbrechen der millionenfachen Judenvernichtung. Am 9. November gedenken wir der Reichspogromnacht von 1938. Damals entlud sich das Wüten der Nazis gegen Jüdinnen und Juden, begleitet von johlenden Menschenmassen, in einer Brutalität, die Hunderte Menschen das Leben kostete; Hunderte Jüdinnen und Juden begingen angesichts des Terrors in jenen Tagen Selbstmord, wurden in Judenhäuser gezwungen oder deportiert.
Zum Gedenken daran sagte in Melle Wilhelm Hunting, der Ortsbürgermeister von Buer, im Jahr 2023: „Wer heute der Opfer des Nazi-Terrors gedenkt, hat die Pflicht, sich auch dem aktuellen Antisemitismus entgegenzustellen – einem Antisemitismus, der sich zunehmend offen und in schamloser Weise zeigt. Mahnen und Gedenken bleiben ein unverbindliches Ritual, wenn sie nicht zum aktiven Einsatz gegen Antisemitismus, Rassismus und Faschismus und für demokratische Grundwerte führen – nicht irgendwann und irgendwo, sondern hier und jetzt.“ (1).
Immer und überall die „Verletzlichen und Fremden verteidigen“.
Wie schon 2023 steht auch das Gedenken an die Reichspogromnacht in diesem Jahr unter dem Eindruck des Krieges in Gaza (und darüber hinaus), der mit dem Massaker von Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 in Israel seinen Anfang nahm, bei dem 1.200 Menschen ermordet und 250 als Geiseln nach Gaza entführt wurden. Für Jüdinnen und Juden teilt dieses Massaker das Leben in ein Davor und ein Danach. In Deutschland explodierte seit diesem 7. Oktober die Anzahl der antisemitischen Straftaten.
Der massiv sichtbar gewordene Judenhass in Teilen der arabisch-palästinensischen Community und ihrer Unterstützer, ist ebenso sehr ein Angriff auf die liberale Demokratie wie der Hass und die Hetze Rechtsradikaler. Vor diesem Hintergrund sind die Worte von Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ein Meilenstein. Er sagte am 6. Oktober 2024 bei der Solidaritätskundgebung in München für die Opfer des 7. Oktober: „Weil wir als Juden Teil einer verletzlichen Gemeinschaft sind, weil wir wissen und uns erinnern, wie es ist, als Fremder und als Feind markiert zu werden, werden wir immer die Verletzlichen und die sogenannten Fremden verteidigen“ (2).
„Wer ausgegrenzt wird, darf niemals allein bleiben“.
Für Josef Schuster wie auch schon Jahrzehnte zuvor für Ignatz Bubis, den damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden, und seinen Generalsekretär Michel Friedmann ist offenkundig, was den Kern unserer liberalen Demokratie ausmacht und was nur unzureichend im Bewusstsein verankert ist: „Wer angegriffen wird, verdient Solidarität. Wer ausgegrenzt wird, darf niemals allein bleiben. Wer in Bedrängnis gerät, benötigt Schutz und Sicherheit.“ (3)
Solidarität mit den Opfern: Dafür standen Vertreter der Jüdinnen und Juden z.B. 1992 in Rostock-Lichtenhagen ein, wo ein brauner Mob, dem Tausende Menschen Beifall klatschten, das Wohnhaus vietnamesischer Vertragsarbeiter angezündet hatte, die Polizei vertrieb und die Feuerwehr an der Brandlöschung hinderte. Rostocker Bürger riefen beim Biergelage Deutsch-Vietnamesen in ihrem Heim zu: ,Jetzt werdet ihr gegrillt`.“
Erschreckende Demokratie-Defizite: „Was verdammt noch mal sucht ihr Juden eigentlich dort? Es ging doch gar nicht um euch.“
Dass es aktuell angesichts der hohen Anzahl antisemitischer Straftaten an einer breiten Allianz der Solidarität für Jüdinnen und Juden fehlt, zeugt von erschreckenden Demokratie-Defiziten und Geschichtsvergessenheit. Beides zeigte sich schon in den 1990-er Jahren.
So wird Ignatz Bubis im Anschluss an seinen Besuch in Rostock-Lichtenhagen von einem CDU-Politiker gefragt, ob seine Heimat nicht Israel sei. Und wie dieser zum Nahostkonflikt stehe. Bubis fragte zurück: „Sie wollen mit anderen Worten wissen, was ich hier eigentlich zu suchen habe?“ Auch Michel Friedman erinnert sich viele Jahre nach dem Besuch vor allem an diese eine Frage, mit der man ihn im Laufe der Jahre immer wieder konfrontiert: „Was verdammt noch mal sucht ihr Juden eigentlich dort? Es ging doch gar nicht um euch.“ (4) Abgründe tun sich bei solchen Sätzen auf. Warum?
Unsere Demokratie verpflichtet uns alle zu einem Miteinander ohne Hass und Hetze, ohne Gewalt und Übergriffe.
Der Shoa-Überlebende Ignatz Bubis war Deutscher, Michel Friedmann ist Deutscher. Deutschen Jüdinnen und Juden das Deutschsein abzusprechen, Angriffe auf Jüdinnen und Juden in Deutschland mit dem Nahostkonflikt zu rechtfertigen; unsere liberale Demokratie dadurch mit Füßen zu treten, dass man sich anmaßt zu bestimmen, wer wem bei Angegriffen beistehen darf und wer nicht, wer überhaupt Beistand verdient – all‘ das ist leider weiterhin Realität und eine der größten Gefahren für unsere Demokratie.
Unsere liberale Demokratie ist nicht ausgrenzend, sondern inklusiv. Sie verpflichtet uns alle zu einem Miteinander ohne Hass und Hetze, ohne Gewalt und Übergriffe – zu einem Miteinander von Palästinensern und Jüdinnen und Juden, von Christen und Muslimen, von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, zum Miteinander aller, die in Deutschland leben. Wie weit wir davon bereits entfernt sind, erleben wir Tag für Tag.
„Es sitzen hier in diesem Parlament Menschen, die sich wieder anmaßen, zu bestimmen, wer ein Mensch ist, wer ein Deutscher ist“.
Michel Friedmann hielt am 9. Oktober dieses Jahres, gut 30 Jahre nach seiner Reise nach Rostock-Lichtenhagen, im Hessischen Landtag eine Rede zum 50. Todestag von Oskar Schindler. Der in Deutschland erst durch den Film ,Schindlers Liste´ bekannt gewordene Unternehmer hatte 1944/1945 in Polen, mitten unter Nazis, rund 1.200 Jüdinnen und Juden vor dem Holocaust und dem Tod in deutschen Vernichtungslagern gerettet. Zu den Geretteten gehörten die Eltern und eine Großmutter Friedmanns. 50 Mitglieder der Friedmann-Familie wurden ermordet.
Michel Friedmann ruft nachdrücklich ins Bewusstsein, dass der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus ein Kampf für die liberale Demokratie ist. Darum geißelt er die im Landtag vertretene AfD mit den Worten: „Es sitzen hier in diesem Parlament Menschen, die sich wieder anmaßen, zu bestimmen, wer ein Mensch ist, wer ein Deutscher ist“. Er bezeichnete die AfD als „Partei des Hasses“, die nicht auf dem Boden der Verfassung stehe.
„Tu etwas“. „Handle“. Gefahr Gleichgültigkeit – gestern wie heute.
Die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts, so Michel Friedmann im Landtag (6), sei der Erhalt der Demokratie. Seiner Meinung fragen zu viele Menschen, was der Einzelne schon tun könne gegen Rassisten, Judenhasser, Hetzer und diejenigen, die die „Demokratie zerstören wollen“. Was er von ihm lernen soll, habe Friedmann einmal Oskar Schindler gefragt, den er persönlich sehr gut kannte. Tu etwas, habe der geantwortet, handle.
Tun wir genug?, fragt Friedmann. Aber nein, ist seine Antwort. Nehmen wir die Dinge einfach so hin?, fragt er weiter. Aber ja, so die Antwort, und er bestätigt den hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein, der betont hatte, dass Demokratie Haltung bedeute und Gleichgültigkeit eine große Gefahr sei.
„Am 9. November werden wir wieder »Nie wieder ist jetzt« hören, aber um es mit Leben zu füllen, müsste klar sein, was denn da »nie wieder« passieren soll.“
Friedmann kritisiert in seiner Rede mangelndes Engagement, wenn er sagt: Hätten alle, die in den letzten Jahrzehnten von „Wehret den Anfängen“ sprachen, immer und überall und jedem Gegenüber klar Stellung bezogen, stünden wir in Deutschland nicht da, wo wir jetzt stehen.
„Am 9. November werden wir wieder »Nie wieder ist jetzt« hören, aber um es mit Leben zu füllen, müsste klar sein, was denn da nie wieder passieren soll,“ schreibt die Journalistin Esther Schapira als Gastautorin in einem Beitrag für die Jüdische Allgemeine (7) zum Jahrestag des Hamas-Massakers vom 7. Oktober. Ja, was soll denn nie wieder passieren? Die Antwort muss sein: Es soll nie wieder passieren, dass wir Hass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden zulassen, dass wir versagen beim Schutz jüdischen Lebens wie in den 1930-ger Jahren.
Wo war unsere Solidarität mit unseren jüdischen Mitbürgern im November 1938 und in den Jahren zuvor? Stieß etwa der Geschäftsboykott zum 1. April 1933 unter dem Motto „Kauft nicht bei Juden“ auf deutlichen Protest in der Bevölkerung? Nein. Gab es z.B. breiten Widerstand, als ab Januar 1935 „nichtarische“ Ärzte keine Approbation mehr erhielten, als über 1000 Künstler, die an öffentlichen Bühnen tätig waren, ihre Stellung verloren, als jüdische Schüler an höheren Schulen nicht mehr nicht mehr zugelassen oder von dort verdrängt wurden? Die Antwort ist NEIN.Die Reichspogromnacht kam nicht aus dem Nichts. „Verdrängung und Vernichtung“ ist die Überschrift zu einer Arbeit von Prof. Dr. Arno Herzig über die Akzeptanz des Antisemitismus in Deutschland, den wir als Erinnerung und Mahnung empfehlen (8). Und heute?
„Wo Antisemitismus Platz hat, kann jede Form von Hass um sich greifen“.
Es ist eine bittere und bitterernste Bilanz, die Michel Friedmann mit seiner Rede im Landtag zieht – 86 Jahre nach der Reichspogromnacht, knapp 80 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz und 50 Jahre nach dem Tod von Oskar Schindler, der zu seinen Lebzeiten in Deutschland keinerlei Würdigung erfuhr. Statt dessen, berichtete Michel Friedmann, erlebte Schindler in Frankfurt, dass er auf der Straße angespuckt und als „Judenfreund“ angefeindet wurde.
Und heute? Wie es um jüdische Menschen in Deutschland stehe, sei ein „Offenbarungseid unserer Gesellschaft“, denn Jüdinnen und Juden müssten sich inzwischen überlegen, das Land zu verlassen, so Michel Friedmann.
Dass inzwischen auch viele Menschen mit Migrationshintergrund wegen der Erfolge der AfD über einen Wegzug aus Deutschland nachdenken, aber nur wenige sich klar und sichtbar gegen Antisemitismus positionieren, zeigt, dass nicht verstanden wurde, was Charlotte Knobloch, die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden, 2021 in ihrer Rede im Bundestag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus so formulierte: „Wo Antisemitismus Platz hat, kann jede Form von Hass um sich greifen – Rassismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit, Menschenverachtung jeder Couleur. Der Kampf dagegen ist ein Kampf für die Menschenwürde, für Demokratie, für Einigkeit, für Recht und Freiheit.“ (9)
„Zu einem Zusammenleben gibt es keine Alternative“.
Worauf kommt es an angesichts von Hass, Hetze, Unmenschlichkeit? „Sei ein Mensch“, war die Antwort von Marcel Reif im Januar dieses Jahres bei seiner Rede im Bundestag anlässlich des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus. Reif zitierte einen Satz, den ihm sein Vater mit auf den Lebensweg gab. Dieser universelle Leitsatz ist die Leitlinie, um auch bei Katastrophen wie dem unermesslichen Leiden in Gazas nicht die Orientierung zu verlieren.
„Juden und Palästinenser sind nicht nur Nachbarn im Nahen Osten, sie sind es auch in deutschen Städten. Hier wie dort gilt: Zu einem Zusammenleben gibt es keine Alternative“, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, vor wenigen Wochen in München.
„Wir dürfen uns nicht der Wut überlassen“. Sei ein Mensch.
Wie kann Zusammenleben in einem von Trauer, Wut und Feinseligkeit geprägten Klima gelingen? Gerichtet an Jüdinnen und Juden wie an uns alle schreibt dazu Esther Shapira in der Jüdischen Allgemeinen (7): „Das erste Trauerjahr ist vorbei. Wir müssen ins Leben zurück. Wir müssen wieder sichtbar werden, und wir dürfen uns nicht der Wut überlassen, müssen der eigenen Verrohung entgehen. Wir dürfen die Augen nicht vor den Bildern der Kinder in Gaza verschließen. Sei ein Mensch kennt kein Aber, nur das Und.“
Diese Sätze von überwältigender humanistischer Kraft drücken aus, was es heißt, auch bei schwerster Bedrängnis Haltung zu zeigen, sich nicht von Trauer und Wut zum Hass, zum Gegeneinander, zur Empathielosigkeit verleiten zu lassen. Sei ein Mensch, ohne Wenn und Aber: Stehen wir dafür entschieden genug ein? Das ist die Frage, die sich zum diesjährigen Gedenken der Reichspogromnacht noch drängender stellt als in den Jahren zuvor.
Unsere Empfehlung: Die Rede von Michel Friedmann anhören.
Aufgerufen werden kann sie unter: www.youtube.com/watch?v=zRQq1YiACNM
Quellen:
1 www.melle.info/portal/meldungen/mit-dem-putzen-von-13-stolpersteinen-in-buer-der-reichs-pogrom-nacht-gedacht-919009847-20301.html
2 www.zentralratderjuden.de/aktuelle-meldung/artikel/news/ansprache-dr-josef-schuster-run-for-their-lives-am-06102024-muenchen/
3 www.zeit.de/gesellschaft/2023-12/solidaritaet-nahostkonflikt-ignatz-bubis-zentralrat-der-juden
4 www.welt.de/politik/deutschland/article254284874/AfD-Schafft-ein-von-Personen-mit-dunkler-Hautfarbe-ausgehendes-Bedrohungsszenario.html?source=puerto-reco-2_ABC-V42.0.C_FCM_p35_extra_row
5 www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/antisemitismus-straftaten-klein-israel-krieg-hamas-100.html
6 www.youtube.com/watch?v=zRQq1YiACNM
7 www.juedische-allgemeine.de/meinung/wir-duerfen-nicht-werden-wie-unsere-feinde/
8 www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/juedisches-leben-in-deutschland-304/7687/1933-1945-verdraengung-und-vernichtung/
9 https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-12/solidaritaet-nahostkonflikt-ignatz-bubis-zentralrat-der-juden/komplettansicht
10 www1.wdr.de/nachrichten/wdrforyou/deutsch/wdrforyou-palestenians-and-jews-for-peace-de-100.html